Siegfrid Kracauer
Die Angestellten beginnen literaturfähig zu werden. Ihr gemeinsames Schicksal, das in der Nachkriegszeit eine feste Kontur erhalten hat, kann nicht mehr übersehen werden und verpflichtet zur Darstellung. Sinclair Lewis versucht in seinem großen Roman: »Job« (unter dem Titel: »Erwerb« bei Ernst Rowohlt erschienen dem Büroleben wie überhaupt dem Alltag der Angestellten die typischen Züge abzugewinnen. In Deutschland haben sich Breitbach und R. Braune um die Wiedergabe gewisser Angestelltenmilieus bemüht. Leider entwickelt sich mit diesen vorerst vereinzelten Schilderungen nicht zugleich auch das richtige Bewußtsein von der sozialen Lage der Angestellten. Im Gegenteil: je mehr sie das öffentliche Interesse auf sich lenkt, desto mehr Anstrengungen werden unternommen, den gesellschaftlichen Ort unkenntlich zu machen, an dem sich die Angestellten in Wahrheit befinden. Aber das hat politische Gründe und gehört nicht hierher.
Die Inventarisierung des Angestelltendaseins ist neuerdings durch den Roman: Schicksale hinter Schreibmaschinen von Christa Anita Brück nicht unwesentlich gefördert worden. Das Buch, das vorwiegend die wenig heiteren Lebensläufe weiblicher Angestellten vermittelt, ist unzweifelhaft aus dem Bedürfnis entstanden, die eigenen bitteren Erfahrungen auf eine anständige Art loszuwerden. Aber wenn irgendwo so ist hier (nicht minder wie seinerzeit bei den Kriegsromanen) die autobiographische Form am Platz. Sie verbürgt die Wirklichkeitsnähe, durch die allein solche Frontberichte gerechtfertigt werden, und überdies ist in der individuellen Not die allgemeine beschlossen.
Aus einer sozial gehobenen Schicht wird die Verfasserin in die Niederungen verschlagen. Sie ist wach und klug und vermag daher, Zustände zu umreißen und die fremden Schicksale so aufzunehmen wie ihr persönliches. In einer ungekünstelten Sprache, die höchstens dort durch falschen Bildungszauber ein wenig beeinträchtigt wird, wo sie sich in die Bildungssphäre selber vorwagt, erzählt sie von der Angst der kranken Kollegin vor dem Abbau; von dem Lehrling, den ein betrügerisches Geschäftsgebaren korrumpiert; von einer kleinen Bürostreberin, die sich durch ihre kitschige Süße die Gunst des Vorgesetzten erobert. Was die Chefs betrifft, an die Frau Brück bei ihrer unfreiwilligen Wanderung durch verschiedene kleinere und größere Betriebe gerät, so ist der eine eine liederliche Winkelexistenz, der andere ein Wüstling und noch ein anderer ein Autokrat, dem weibliche Kräfte gerade gut genug für untergeordnete Posten sind. Nur einmal kommt sie zu einem netten Fabrikanten, und der hat einen unleidlichen Onkel. Mag sie vom Pech verfolgt sein: die traurigen Einzelfälle veranschaulichen zum mindesten die Schwierigkeiten, denen die Frauen oft im Angestelltenberuf ausgesetzt sind. Und um nicht in dieser Zeit wirtschaftlicher Depression entlassen zu werden, ertragen viele schweigend ihr Los. Die individuelle Betrachtungsart ist die Stärke des Buchs und zugleich seine Schwäche. An einer Stelle sagt die Verfasserin zu einem jungen Kollegen, der sich über seinen Arbeitgeber beklagt: »Es liegt am Charakter. Auch unter euch sind viele, die nichts taugen ...« Aber dieser ausgesprochene Individualismus rührt nirgends an die Gesellschaftskonstruktion selber, die das Angestelltenschicksal bestimmt. Er möchte aus einzelnen Charakteren Unzulänglichkeiten ableiten, deren Vorhandensein faktisch in den sozialen Verhältnissen begründet ist, die ihrerseits an den Charakteren die Mitschuld tragen. Ein Glück nur, daß die Verfasserin ihre Darstellung nach den Grundsätzen individueller Moral zu Ende führt und durchweg darauf verzichtet, schlimme Eindrücke zu verallgemeinern. So bleibt sie wenigstens davor bewahrt, Ansprüche zu stellen, die sie nicht befriedigen kann. Ihr Buch ist ein trefflicher Beitrag zur Bestandaufnahme der Angestelltenwelt; Folgerungen auf die Gesamtsituation dieser Schicht oder gar auf das Gesellschaftssystem, dem sie entwächst, lassen sich nicht aus ihm ziehen.
Immerhin wird, am Anfang vor allem, eine Lehre laut, die das Ergebnis mancher Schreibmaschinenlaufbahn zu sein scheint: die Lehre, daß der Beruf für die alleinstehende Frau stets nur ein Durchgangsstadium sein kann. Einmal muß die Verfasserin von ihrem Abteilungsleiter hören: »Vergessen Sie doch um Gottes willen nicht, daß jede halbwegs annehmbare Ehe Ihre einzige Rettung ist ...«, und auch eine Kollegin sagt zu ihr: »Denken Sie an mich, heiraten um jeden Preis!« Suzanne Normand ist in ihrem (bei S. Fischer in deutscher Übersetzung erschienenen) Buch: »Fünf Frauen auf der Galeere« zur selben resignierten Einsicht gelangt, die hier zwischen den Zeilen steht. Die Frauenemanzipation wird erst mit der Emanzipation des Menschen am Ziel sein.
(Quelle: Frankfurter Zeitung vom 6.7.1930, Literaturblatt)