Siegfried Kracauer
Der Roman »Konfektion« von Werner Türk beansprucht schon durch seine Stoffwahl Interesse. Dargestellt wird in ihm die Konfektion am Hausvogteiplatz; ein Stück Wirklichkeit also, das bisher meines Wissens literarisch noch nicht bearbeitet worden ist. Gewiß gibt es Romane, in denen etwa Mannequins eine Hauptrolle spielen - ich denke zum Beispiel an Wilhelm Speyers: Ich geh' aus und du bleibst da (Berlin: Rowohlt Verlag 1930). Aber die Bücher dieses Schlag verfahren mit ihrem Thema ähnlich wie andere mit dem Krieg: das heißt, sie benutzen die Konfektion als Folie für irgendein Liebeserlebnis oder sonst eine Geschichte. Der Hintergrund bleibt dabei völlig im Hintergrund. Türk dagegen zieht ihn hervor, und man hat durchaus den Eindruck, daß er die Konfektion mit ihren Chefs und Zwischenmeistern, ihren Reisenden, Einrichtern, Lehrlingen und Hausdienern sehr genau kennt. Offenbar hat er sie nicht nur von außen betrachtet, sondern ist selber in der Branche tätig gewesen. Ich schließe das aus der Sicherheit, mit der er die Topographie, die Sprache und die Usancen dieser Welt beherrscht. Man lernt etwas aus dem Buch.
Seine Tendenz ist radikal. Indem es die Zustände in der Konfektion aufweist, geißelt es sie zugleich. Der von oben her ausgeübte Druck, der sich über die Zwischenmeister hinweg bis zu den Heimarbeiterinnen fortpflanzt, stehende Mißbräuche und bedenkliche Manipulationen: das alles ist, wie mir scheint, mit Sachkunde und ohne unzulässige Verallgemeinerung wiedergegeben. Besonders ausführlich werden die Verhältnisse der Angestellten geschildert. Sie treten in den verschiedensten Spielarten auf, typische, ihren gesellschaftlichen Funktionen zugeordnete Exemplare, die doch keineswegs der individuellen Färbung entraten. Es versteht sich von selbst, daß Türk die Sonderposition, die sie zwischen dem Arbeitgeber und der Masse der Abhängigen einnehmen oder einzunehmen glauben, der Kritik unterzieht. Er zeigt, wie erhaben sich ihre viele über die Lohnempfänger dünken, stellt ihren Mangel an solidarischem Verhalten bloß und zerstört manche Illusionen, die sie sich machen.
So handelte es sich um eine Art sozialer Romanreportage von bestimmter Tendenz? Eben nicht. Und das gerade finde ich an dem Buch erfreulich.
Denn die als Roman aufgeputzte gesellschaftskritische Zustandsschilderung, die seit etlichen Jahren bei uns gepflegt wird, ist eine unfruchtbare Mischform. Und zwar darum, weil sie weder sachgemäß in die Zustände eindringt, noch auch den Forderungen entspricht, die an einen Roman zu richten wären. Was zunächst ihr Verhalten jenen gegenüber betrifft, so verfährt sie nach einer Parole, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt ziemlich viel von sich reden machte, aber inzwischen glücklicherweise an Schlagkraft verloren zu haben scheint. Ich meine die Parole von der Verlebendigung der Wissenschaft. Um der aus triftigen Gründen in Mißkredit geratenen Wissenschaft wieder aufzuhelfen, glaubte man zwischen ihr und dem "Leben" sie ist. Im falsch verstandenen Interesse, sie diesem anzunähern, raubte man ihr die genaue Begrifflichkeit, die sie gerade zur Wissenschaft stempelt. Man popularisierte sie, statt zu ihr zu erziehen; man aktualisierte sie, statt die Aktualität wissenschaftlich zu begreifen. Von solcher Verlebendigungssucht sind zweifellos auch die Verfasser der sozialen Romanreportagen erfüllt. Die Aufgabe, unsere gesellschaftlichen Verhältnisse in Form von Abhandlungen und wissenschaftlichen Werken zu analysieren, dünkt ihnen zu trocken, und so gestalten sie ihr material lieber in Form von Romanen. Zugegeben, daß diese Methode leichter anzuwenden und häufig genug dankbarer ist; aber sie steht an dokumentarischem Wert und Möglichkeiten echten Eingreifens weit hinter der exakten Analyse zurück. Nicht allein, daß die Romanreportage ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse entwirft, das sich rein durch die Art seiner Mitteilung nicht kontrollieren läßt, sie verzichtet auch von vornherein, eben um der Romanhaftigkeit willen, auf die substantielle Durchdringung des Stoffes, die nur mit Hilfe eines gewissen theoretischen Apparates bewerkstelligt werden kann. Sie erobert nicht Neuland, sondern hinkt der Wissenschaft nach; sie aast mit Befunden; sie erzielt allenfalls gefühlsmäßige Wirkungen, statt Erkenntnisse zu produzieren, die uns wirklich zu Veränderungen befähigten.
Ebenso wenig vermag dieser Typus der kritischen Zustandsschilderung die Funktion des Romans auszuüben. Der Hauptfehler, dessen sich die einschlägigen Autoren schuldig machen, ist aber der: daß sie die Zustände und Tendenzen, um die es ihnen zu tun ist, nicht aus der epischen Gestaltung hervorgehen lassen, durch diese vielmehr umgekehrt jene exemplifizieren wollen. Das heißt, sie vermitteln gar nicht primär das der Romanform zugekehrte konkrete Dasein, sie benutzen es nur zur Verlebendigung eines Stoffes, der vermutlich in einer Abhandlung ungleich treffender dargestellt werden könnte. Die meisten der hier gemeinten Romanreportagen leiden an dem Gebrechen der Scheinkonkretheit. Ihre Situationen sind von einer bestimmten abstrakten Auffassung her konstruiert und müßten doch von rechtswegen auf sie hinweisen; ihre Menschen sind keine wirklich erfahrenen Menschen, sondern Puppen, die zur Verdeutlichung der Tendenz ins kahle Konstruktionsgerippe eingesetzt und mit der an der betreffenden Stelle fälligen Erkennungsmarke versehen werden. Ich erinnere mich eines Romans, in dem einmal das Wort Kleinbürger so gebraucht ist, daß die Art seines Gebrauchs die Untauglichkeit des ganzen Romans enthüllt. Der Terminus dient dort nämlich zur naiven Kennzeichnung irgendeines Menschen oder einer Menschengruppe. Nun gehört dieser Ausdruck der theoretischen Sphäre zu, in der er eine definierbare Bedeutung hat. Wenn er in die konkrete Umwelt verpflanzt und dort ungebrochen benutzt wird, heißt das nichts anderes, als daß diese Umwelt keineswegs die Konkretheit besitzt, über die sie doch als Romanbestandteil zu verfügen hätte. Denn wäre sie wirklich konkret, so müßte sich gewiß aus der Charakterisierung eines in ihr befindlichen kleinbürgerlichen Menschen ergeben, daß er kleinbürgerlich ist; nicht aber dürfte der Mensch dadurch charakterisiert werden, daß man ihn tendenziös Kleinbürger nennt. (Daß Begriffe wie der des Kleinbürgers natürlich auch legitim in einem Roman auftreten können, bedarf wohl keiner Erwähnung.) Kurzum, die Romanreportage versagt sowohl den Fakten wie den Ansprüchen der Romanform gegenüber. Unkräftig bewegt sie sich zwischen Wissenschaft und gestalteter Epik, Erfindung und Dokument.
Daß sich Türk durch seinen Gegenstand nicht zur romanhaften Zustandskritik verführen läßt, ist vor allem dem glücklichen Griff zu danken, den er mit der Figur des Helden tut. Der empört sich nicht etwa gegen das Bestehende, sondern ist ein Karrierist, ein ganz gerissener Junge, der sich skrupellos vom Lehrling zum Mitinhaber eines großen Konfektionshauses durchwindet und -boxt. Dieser peinliche Typ nimmt die Mitte des Buches ein, und die Stationen seines glorreichen Anstiegs bestimmen den Gang der Handlung. Ist es nun schon wichtig, daß Türk den Helden konkret gestaltet, so ist es noch ungleich wichtiger, daß er gerade den geschworenen Feind der im Roman vertretenen Interessen zum Helden macht. Denn durch die so getroffene Wahl bewahrt er sich davor, in die übliche soziale Romanreportage zu entgleiten. Sie wäre sofort gegeben, wenn der eigentliche Träger der Handlung die zu verfechtenden Tendenzen direkt verkörperte. Dann ließe sich kaum der Gefahr entrinnen, der alle diese Zwischenprodukte erliegen: daß der Roman zur pseudo-dokumentarischen Darstellung verblaßte und die nur in genauer Untersuchung zu demonstrierende Haltung ein ihr abträgliches Scheinleben gewönne. So aber ist türk gezwungen, gewissermaßen gegen den Strich zu schreiben. Die wider das Ziel des Buches gerichtete Bewegung seines Helden, die alle übrigen Figuren mitreißt, nötigt ihn, den Autor, zu lauter indirekten Aussagen, verhindert ihn daran, der Tendenz selber das Wort zu erteilen. Er personifiziert sie nicht, sondern läßt sie durch das Medium der Personen erscheinen; er illustriert nicht sein Wissen um die Zustände, sondern macht die Zustände episch sichtbar.
Im großen und ganzen ist dieser Roman jedenfalls wirklich ein Roman. Ich übersehe nicht, daß er nur eben sein Thema abwandelt, ohne es je zu transzendieren, verschiedene rein schematische Figuren und Gespräche enthält und eine lockere, nichtssagende Komposition hat. Aber diese Schwächen werden dadurch zurückgedrängt, daß er der Verlockung, die Form des Romans zu mißbrauchen, mit Erfolg widersteht. Hinzu kommt, daß er knapp, spannend und schön äußerlich erzählt ist. Allerdings fließen die Sätze zu leicht.
(Quelle: Frankfurter Zeitung vom 5.6.1932, Literaturblatt)